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Demontage der Nostalgie


Wie viele Bilder benötigt man, um die Erinnerung an eine Reise mit ihren Landschaften und Erlebnissen festzuhalten? Welche Eindrücke bleiben? In den 70er Jahren wurde vielfach versucht, Urlaube schier minutiös auf Dia-Filmen festzuhalten und bei endlos langen Dia-Abenden verbal zu kommentieren. Wer solche Abende erlebt hat und heute daran zurückdenkt, dem kommen sicher weniger die gezeigten Motive in den Sinn, sondern eher nostalgisch gemischte Gefühle bezüglich der Gastgeber. Auch heute ist dank Handy und Internet der Trend zum Dauerknipsen wieder in Mode: "Fotografieren wird zur Sucht, die Kamera zum besten Freund: Neue Foto-Handys verändern unseren Blick auf die Welt und das Gespür für Gegenwart geht dabei verloren" schrieb Hanno Rauterberg bereits Ende 2002 im Feuilleton der "Zeit"[1]. Er spricht von der "Kamera als unser drittes Auge". Eine beunruhigende Vorstellung.
 
Renate Bühr geht einen anderen Weg, um ihre Erinnerungen und Eindrücke festzuhalten. Sie nutzt für ihre Kunstwerke nicht Fotos oder Bilder, sondern mitgebrachte Zeitungen, Etiketten, Souvenirs,. Das Material wird in kleinste Fragmentflächen zerlegt, die einzeln betrachtet keinerlei bildnerische Aussage mehr tätigen können. Sie werden von ihr zu einzelnen Gefühlsregungen abstrahiert, die im Detail auch nur von ihr selbst identifizierbar sind. Diese Konsequenz ist logisch, denn alles "Erlebte" kann sich ja zunächst nur in der Summe unseren eigenen, unzähligen, intimen Erinnerungen offenbaren - und bleibt dabei doch in uns selbst gefangen. Renate Bühr gibt in ihren Collagen jedem wichtigen erlebten Moment seinen eigenen Platz und erzählt auf diese Weise am Ende tatsächlich in poetischen "Schnipseln" Geschichten voller Erinnerungen und Emotionen. Ihre raffinierte Technik verdichtet zahllose Augenblicke zu einzelnen bildnerischen Gefühlen, die in facettenreichen "Zwischentönen" erst aus einiger Entfernung zu einem Gesamtbild verschmelzen.
 
Die Collagen sind aber nicht nur "Endprodukt" sondern dienen als wichtige Zwischenschritte für Weiterentwicklung. Als "Erinnerungsskizzen" für die dazugehörige Malerei werden sie von Renate Bühr detailliert in Struktur und Wirkung auf Leinwand übertragen. Hinzu kommen nun Materialien wie mitgebrachter Sand und Stoff, um Collagekomponenten in eine neue Räumlichkeit auf der Leinwand zu übersetzen. Dieser Schritt wandelt die Collage in eine bewusste Abbildung "verdichteter Zeit". Klare Schnitte mit der Schere transformieren sich zu "Erinnerungsunschärfen", denen unser Gedächtnis tatsächlich auch ausgesetzt ist. Mehr und mehr Momente weichen Tag für Tag aus unserem Kopf, Erinnerungen müssen tatsächlich aktiv bewahrt werden. Renate Bührs Bilder leisten hier einen wertvollen Beitrag, indem sie nicht nur ihr Erinnertes preisgeben, sondern uns zugleich auch auffordern, mit dem Erinnern nicht aufzuhören.
 
Merkwürdigerweise zeigt sich diese Mahnung am stärksten in jenen früheren Bildern, die inzwischen radikal mit schweren Farbstrichen übermalt worden sind. Eine einstige Provencelandschaft erzählt jetzt von neuem "Glatteis", eine Landschaft in Teneriffa warnt nur noch als Träger eines abstrakten Hinweisschildes. Seine harten Käfigkonturen und Stiefelsilhouetten signalisieren: "Not For Walking". "Escape" offenbart dunkle Konturen fremder Personen, wo vorher eine Landschaft Namibias von Früher erzählte. Geheimnisvolle Geschichten verbergen sich in den Übermalungen. Sie ziehen sich wie Fäden und Verschnürungen über die Bilder, neue Farbflächen und Bildthemen entstehen, die eigene Position zum vergangenen Gezeigten wird neu ausgerichtet. Was nützt das Schwelgen im Guten von Gestern, wenn es mir heute plötzlich nicht mehr so gut geht? Die gelebte Gegenwart scheint mit einem Mal zu kostbar, als dass sie sich ausgiebig mit dem Gestern aufhalten darf. Erinnern wird zur bewussten Selektion, nur die wichtigen Momente sind es wert, dass man sie bewahrt. Renate Bühr praktiziert durch ihre strikten, unwiderruflichen Übermalungen eine neue, nüchterne Sicht auf das eigene Leben und die eigene Kunst.
 
Vielleicht sollten wir auch alle hin und wieder unsere Lebensnostalgie auf so einen inneren Prüfstand stellen - oder um wieder zur Kamera zurückzukehren: Wie schön wäre es, im Digitalarchiv all jene Fotos plötzlich verschwinden würden, die uns gar nicht wichtig sind. Vielleicht sogar alle. Es bliebe, wie in Renate Bührs Bildern, an Erinnerungen genug übrig, um das zu erzählen, was wirklich zählt.

2013 für die Ausstellung "Renate Bühr: Zwischentöne" in der Galerie Palme

[1] Hanno Rauterberg "Und dann ist immer Dia-Abend", DIE ZEIT 51/2002